Machen. Tun. Dranbleiben.

Veröffentlicht: 1. Dezember 2025Kategorien: Longevity

Ein Gespräch mit Hans-Gerd Neglein über Haltung, Glück und ein langes Leben

Hans-Gerd Neglein ist 98 Jahre alt – und wirkt geistig so präsent wie ein Mann, der mitten im Leben steht. Der ehemalige Siemens-Manager hat fast ein Jahrhundert erlebt: Krieg, Wiederaufbau, Weltkarriere, Flugzeugabstürze und schließlich ein zweites Leben als Umweltpionier in Andalusien. Heute lebt er mit seiner Frau Ernestine Lüdeke auf einer Finca nahe Sevilla, wo er die Fundación Monte Mediterráneo gegründet hat – zum Schutz des Doñana-Nationalparks.

Ein Gespräch über Disziplin, Neugier, Sinn und die Kunst, alt zu werden, ohne alt zu sein.

„Ich habe nie damit gerechnet, so alt zu werden.“

Herr Neglein, Sie gehen stramm auf die 100 zu. Wenn Sie morgens in den Spiegel schauen – sehen Sie da den alten Herrn oder immer noch den jungen Kerl aus dem Ruhrgebiet?

Ich sehe den alten Herrn – aber einen, der noch da ist. Ich habe nie damit gerechnet, dass ich einmal so alt werde. Das war in meinem Denken gar nicht vorgesehen. Aber man kann das Leben ja nicht planen wie eine Karriere. Ich sehe mich, wie ich bin – vielleicht ein paar Jahre jünger. Und ich bin dankbar, dass ich immer noch morgens aufstehen kann und mich auf den Tag freue.

„Aufgeben gab’s nie – weder im Sport noch im Leben.“

Sie sind Jahrgang 1927, haben den Krieg als Jugendlicher erlebt. Viele Ihrer Generation sind daran zerbrochen. Was hat Sie stark gemacht?

Durchhalten. Machen. Tun. Meine Mutter hat mir einmal ein kleines Bild geschenkt, darauf stand: „Ich will.“ Das hing über meinem Bett. Dieser Satz war mein Motto – damals und heute. Wenn man früh erlebt, dass man ums Überleben kämpfen muss, lernt man, nicht gleich aufzugeben. Ich habe früh verstanden: Es hilft nichts, zu jammern. Man muss handeln.

„Neugier war mein Treibstoff.“

Nach dem Krieg haben Sie bei Siemens angefangen und sind bis in den Vorstand aufgestiegen. Was war Ihr Motor – Ehrgeiz, Neugier oder Glück?

Ein bisschen von allem. Ehrgeiz, ja, aber kein blinder. Ich war neugierig auf Neues – auf andere Länder, andere Menschen, andere Aufgaben. Ich habe nie Angst vor Veränderung gehabt. Wenn ich eine Aufgabe bekam, habe ich mich gefragt: „Neglein, packst du das?“ Wenn ich „Ja“ gesagt habe, dann habe ich’s gemacht. Karriereplanung? Die gab’s damals gar nicht. Aber wer neugierig bleibt und Verantwortung übernimmt, kommt weiter.

„Arbeit hat mich nie krank gemacht.“

Viele sagen, Arbeit mache krank. Sie sind das Gegenteil. Was war Ihr Geheimnis?

Arbeit war für mich nie Belastung, sondern Lebenselixier. Wenn man eine Aufgabe bekommt, muss man sie ernst nehmen, durchdenken, machen – und das Beste daraus machen. Ich habe immer gesagt: „Wir arbeiten aus Freude, und für den Ärger werden wir bezahlt.“

Erfolg hat man nie allein. Ich hatte gute Mitarbeiter, und ich habe sie immer anständig behandelt. Loyalität kann man nur erwarten, wenn man sie selbst zeigt. Vielleicht ist das altmodisch, aber es funktioniert bis heute.

„Dreimal Glück – und nie Angst vorm Fliegen.“

Sie haben mehrere Flugzeugabstürze überlebt. Das klingt wie aus einem Abenteuerroman.

(lacht) Ja, das war schon verrückt. Das erste Mal – ein Flug von Rio nach São Paulo – Rauch in der Kabine, Notlandung, zum Glück gut ausgegangen.

Das zweite Mal war schlimmer: Ich sollte eigentlich in einer Maschine sitzen, die kurz nach dem Start in Frankfurt abgestürzt ist. Ich war zwei Tage länger geblieben – Zufall, Schicksal, Glück, wie auch immer.

Und das dritte Mal: eine Propellermaschine in Peru. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, bin ausgestiegen – die Maschine stürzte später über den Everglades ab. Ich habe viel Glück gehabt, aber Angst vor dem Fliegen hatte ich nie. Angst ist ein schlechter Ratgeber.

„Joggen war mein tägliches Gebet.“

Was hat Sie körperlich fit gehalten – Gene, Glück oder eiserne Disziplin?

Alles drei. Ich hatte gute Gene, ja. Aber ohne Bewegung nützt das nichts. Ich bin mein ganzes Leben gelaufen – jeden Morgen, egal wo. Fünf Kilometer, dann duschen, kurzes Frühstück, und ab ins Büro. Ich hatte immer meine Laufschuhe dabei, auch auf Dienstreisen.

Wenn ich es hochrechne, bin ich einmal um die Erde gejoggt. Ich war nie jemand, der sich abends an die Bar setzte. Ein Glas Wein, ja, aber nie zu viel. Kein Nachtisch, viel Wasser. Disziplin, aber ohne Dogma. Das hat mich gesund gehalten.

„Man kann das Leben nicht in Pillen pressen.“

Heute schwören viele auf Eisbäder, Proteinshakes und Supplements. Was denken Sie darüber?

Ich schmunzle. Natürlich ist Bewegung, Ernährung und Regeneration wichtig. Aber das Entscheidende ist die Haltung. Wer nur konsumiert, lebt nicht. Ich glaube, das Geheimnis eines langen Lebens ist die Mischung: Maßhalten, Neugier, Humor und Freude am Leben. Und ja, auch Fehler. Wer keine Fehler macht, bleibt stehen.

„Alt werden ist Arbeit.“

Viele haben Angst vor dem Alter. Wie sehen Sie das?

Angst hatte ich nie. Aber alt zu werden ist Arbeit. Man muss lernen loszulassen. Ich kann heute nicht mehr laufen oder bergsteigen, aber ich kann denken, schreiben, gestalten. Ich akzeptiere, was ist. Das ist nicht immer leicht – aber das ist der Preis des Lebens.

„Nachhaltigkeit ist kein Hobby, sondern Verantwortung.“

Nach Ihrer Karriere hätten Sie sich zurücklehnen können. Stattdessen haben Sie in Spanien eine Umweltstiftung gegründet. Warum?

Ich war viel unterwegs – im Amazonas, in Südamerika – und habe gesehen, was mit der Natur passiert. Ich konnte das nicht ignorieren. Also habe ich gesagt: Dann mach ich was. So entstand die Fundación Monte Mediterraneo. Wir fördern Nachhaltigkeit, Aufforstung und Jugendarbeit. Nach einem großen Waldbrand auf unserer Finca, der 180 Hektar vernichtet hat, wurde mir klar, wie verletzlich dieses Ökosystem ist. Andalusien ist die letzte Barriere zwischen der Sahara und Mitteleuropa. Wenn sie kippt, kippt auch Europa. Dafür lohnt es sich, weiterzumachen.

„Weitergeben, nicht festhalten.“

Ihre Frau Ernestine leitet die Stiftung heute. War das schwer, Verantwortung abzugeben?

Nein. Das gehört zum Älterwerden dazu. Ich habe gesagt: „Du bist jetzt die Verantwortliche.“ Ich helfe, aber sie führt. Das war kein Abschied, sondern eine Staffelübergabe. Man muss wissen, wann man Platz machen muss für andere – das gilt im Beruf wie im Leben.

„Machen. Tun. Dranbleiben.“

Wenn ein 20-jähriger Sie heute fragen würde, wie man stark bleibt, wenn alle anderen abbiegen – was würden Sie antworten?

Geradeaus gehen. Sich nicht bedröhlen lassen, wie wir in Westfalen sagen. Also: sich nicht beeindrucken lassen, keine Angst kriegen. Machen, tun, dranbleiben. Nicht alles durchplanen, sondern anfangen. Und wenn’s nicht gleich klappt, nochmal anfangen. Lebenszeit ist zu schade für Zögern.

„Weitermachen – das ist mein Lebenselixier.“

Und Ihre Mission für die nächsten zwei Jahre – bis zum 100.?

Weitermachen. Ich habe noch genug zu tun. Wir wollen die Stiftung weiter ausbauen, Partner gewinnen, junge Menschen einbeziehen. Ich sage immer: Nachhaltigkeit ist keine Mode, sondern Verantwortung. Und wer etwas bewegen will, muss es einfach tun.

 

Vielen Dank, Herr Neglein. Ich freue mich schon auf unser Gespräch zu Ihrem Hundertsten

Hans-Gerd Neglein und Karin Burger

Das Interview mit Hans-Gerd Neglein war eine echte Teamarbeit zwischen Karin Burger und mir. Sie hat den Kontakt hergestellt und das Gespräch bei ihm zu Hause geführt. Die inhaltliche Konzeption habe ich übernommen.