Acht Fragen an Thomas Heinrich von HerzBegleiter

HerzBegleiter

Im letzten Jahr haben sich an vielen Stellen die Unzulänglichkeiten unseres Gesundheitssystems gezeigt. In aller Munde war dabei auch die stationäre Pflege und die dauernde Überlastung der Pflegekräfte. In dieser Zeit hat sich ein erfahrenes Unternehmerpaar aufgemacht, die Pflege – und zwar insbesondere die ambulante Pflege – durch eine digitale Plattform deutlich zu verbessern. Gülsen und Thomas Heinrich haben das Unternehmen HerzBegleiter gegründet und die erste intelligente digitale Pflegeplattform “SMART CARE ASSISTANT” mit der Expertenerfahrung im gesamten Pflegemarkt aus mehr als 40 Jahren entwickelt Grund genug mit Thomas Heinrich über dieses revolutionäre Projekt zu sprechen.

Sie haben ein Unternehmen für digitale Pflege gegründet. Wie kamen Sie dazu?

Mehr als 20 Jahre durfte ich Erfahrungen aller Art in und mit der Altenpflege sammeln. Aus der Vision heraus, der Pflege von heute ihr wertvolles Gesicht von morgen zu geben, haben die HerzBegleiter die offene Frage gestellt, wie eine Transformation der (häuslichen) Pflegeleistungen als „Appendix“ des Gesundheitswesens und aus dem „angestaubten Image“ (vergleiche: Schwester Agnes…) des Berufsbildes heraus gelingen kann. Während des ersten Corona-Lockdowns vor einem Jahr wurde sehr schnell klar, dass eine Innovation der Pflegebranche mit spürbaren Entlastungen des Pflegepersonals, insbesondere der ambulanten Pflege, nur durch konsequente und intelligente Digitalisierung von Prozessen und Verwaltungsabläufen gelingen kann. Das war der Schlüsselmoment, wenn Sie so wollen für die Geburtsstunde der „Digital Care“. Die Signalwirkung digitaler Pflegeanwendungen als Innovation und Prototypisierung zur Übernahme für die insgesamt äußerst stark reglementierte Gesundheitsbranche entspricht meiner inneren Überzeugung des „Anders-Denkens“. Begleitend verhelfen die HerzBegleiter den Pflegeunternehmern über die Digitalisierung zu einem besseren unternehmerischen Erfolg mit enormem sozialem Mehrwert.

Wie ist bei schmalen Budgets so eine Innovation wie digitale Pflege finanzierbar?

Die Digitalisierung der Pflege wird nur dann an Fahrt aufnehmen, wenn die gesetzlichen Regelungen zur Refinanzierung der (ambulanten) Pflegeeinrichtungen angepasst bzw. ergänzt werden. Mit dem Digitale–Versorgung–und–Pflege–Modernisierungs–Gesetz (DVPMG) will das Bundesgesundheitsministerium insbesondere die Grundlage für eine weitgehende Anbindung der Pflege an die Telematik-Infrastruktur (TI) legen. Erste Ansätze zu einer Refinanzierung in angemessenem Umfang sind im Referentenentwurf zum DVPMG bereits enthalten, müssen im Gesetzgebungsverfahren aber noch umfassend auf die Bedürfnisse aller Pflegebedürftigen und Pflegenden (Angehörige) angepasst werden. Demnach sollen Investitionen in die digitale Infrastruktur (beispielsweise in die Vernetzung von Gebäuden oder den Erwerb von Endgeräten), die aus der Digitalisierung resultierenden Betriebskosten (beispielsweise Wartungsgebühren und neue Lizenzierungsmodelle) sowie vor allem die personellen Ressourcen, die nötig sind, anteilig durch die Pflegeversicherung vergütet werden. Veraltete Kostenrichtwerte der Förderbehörden bzw. Kostenträger müssen zukunftsweisend angepasst, bestehende analoge Denkmuster aufgelöst werden. Der GKV-Spitzenverband soll mit den Herstellern die Erstattungspreise aushandeln. Pflegedienste können Versicherte beim Anwenden der Apps oder Software unterstützen. Hoffentlich lernen wir durch die zögerliche Implementierung von digitalen Gesundheitsanwendungen, damit die anstehenden digitalen Pflegeanwendungen rasche und spürbare Verbesserungen der Pflege erreichen.

Grenzen in der ambulanten Pflege
Grenzen in der ambulanten Pflege

Wann stößt ambulante Pflege an ihre Grenzen?

Für eine qualitativ hochwertige und menschlich nahe Pflege in der Häuslichkeit gibt es nur wenige Ausnahmen/Grenzen. Drei wesentliche Gründe sprechen für den Wechsel aus der ambulanten Pflege in ein Pflegeheim:

  • A- die baulichen Gegebenheiten sind unmöglich mit den notwendigen Pflegemaßnahmen und der Teilnahme am Alltagsleben vereinbar.
  • B- die Selbst- oder Fremdgefährdung des Pflegebedürftigen durch kognitive Einschränkungen.
  • C- Wegfall von wirtschaftlicher Grundlagen bei der ambulanten Versorgung durch unzureichende Vergütung der Pflegeleistungen in Relation zu den regulatorischen Anforderungen an Personal, Organisation und Durchführung der Pflege. Wir sprechen bei der ambulanten Pflege um einen nicht subventionierten Bereich der sozialen Dienstleistung.

Ist ambulante Pflege nur etwas für Reiche?

Ein klares NEIN! Die Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherungen (Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Krankenversicherung) eingeführt. Sie sollte vor allem die Sozialhilfe entlasten, die zuvor für die Kosten der Pflege von finanziell Bedürftigen aufkommen musste. Angelehnt an das Doppelsystem von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist auch die Pflegeversicherung zweigeteilt: soziale Pflegeversicherung für die Versicherten der gesetzlichen Kassen, private Pflegeversicherung für die freiwillig privat Krankenversicherten sowie für Beamte und Abgeordnete. Zudem bietet die ambulante Pflege über die zahlreichen Budgets für einzelne Pflegegrade deutlich mehr finanzielle Mittel zur Finanzierung der erforderlichen Pflegeleistungen, beispielsweise über einen ambulanten Pflegedienst. Der Gesetzgeber hat dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ folgend, die ambulante Pflege für alle Einkommensgruppen sehr attraktiv gemacht. Die Budgets stehen Armen und Reichen in gleicher Höhe zur Verfügung. Die stationäre Pflege ist immer noch deutlich teurer als die ambulante Pflege – auch im höchsten Pflegegrad 5!

Pflegeleistungen zuhause erhalten
Pflegeleistungen zuhause erhalten

Wie sieht aus Ihrer Sicht die Zukunft der stationären Pflege aus?

Gerade die stationäre Pflege wird sich sprunghaft weiterentwickeln müssen, ganz unabhängig von der Forderung „Digitalisierung Jetzt!“. Waren vor wenigen Jahren Doppelzimmer üblich, so sind heute ausschließlich Einzelzimmer zu belegen. Zukünftig wird eine zunehmende Service-Orientierung auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner (außerhalb aller Pflegenotwendigkeiten) für eine gute Auslastung der stationären Einrichtungen ausschlaggebend sein. „Satt, sauber und still“ ist schon heute ein überholtes historisches Paradigma. Beste Arbeitsbedingungen und digital optimierte Prozesse bei der Planung, Dokumentation und Durchführung verschiedenster Pflegeleistungen werden Begleiter einer auf Wertschätzung aufbauenden Veränderung hierarchieübergreifender Teamarbeit werden.

Wir hören überall von Fachkräftepflegemangel. Was sind aus Ihrer Sicht die Top 3 Probleme der Pflege derzeit?

  1. Soziale Dienstleistungsberufe, wie die Pflege, sind wegen der körperlichen und seelischen Belastung unattraktiv, „oft in Folge schlechter Personalausstattung“. Die Böckler-Stiftung schreibt dazu: „In anderen Ländern ist das anders. So kommen der Studie zufolge in US-amerikanischen Krankenhäusern im Schnitt 5,3 Patienten auf eine Pflegekraft, in den Niederlanden sind es sieben, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9. Hierzulande betreut eine Krankenschwester durchschnittlich 13 Patienten.“
  2. Eine angemessene Vergütung in der Altenpflege für Fachkräfte mit Spezial-Weiterbildungen war lange mit den Kostenträgern nicht zu verhandeln. Die Unternehmer waren gezwungen, nicht kostendeckende Personalkosten im Rahmen der Pflegesatzvergütungen zu akzeptieren, quasi nach der Devise: „Friss oder stirb!“. Durch Corona sind auch in diesem Segment die Schwachstellen schonungslos offengelegt worden. Die Vergütung in der Pflege muss sich nach meiner Überzeugung im Vergleich mit anderen Branchen auf einem angemessen guten Niveau von ca. 18 bis 20 Euro je Stunde bewegen. Forderungen nach einem Einstiegsgehalt von 4.000 Euro halte ich aber für verfehlt…“Geld in den Markt kippen, in der Hoffnung, Probleme lösten sich von selbst auf, war noch nie eine gute Idee.“ Im Übrigen sollte die Vergütung von Krankenpflegern und Altenpflegern nicht variieren, was die Attraktivität des Pflegeberufs steigern würde. Eine gesamtgesellschaftliche Frage muss bei dieser Frage beantwortet werden: Wer soll diese (hohen) Löhne bezahlen? Am Ende bezahlen es die Steuerzahler über die Zuschläge zur Pflegversicherung. Ohne Augenmaß in der heutigen Debatte wird Pflege morgen doch ein Luxus?!
  3. Veraltete / überholte Dienstplanmodelle und unattraktive Arbeitsbedingungen fordern alle Arbeitgeber zu einem Umdenken auf. Die wichtigsten Kunden der Pflege sind die Mitarbeiter! Flexible Arbeitszeiten zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, digitale Berufsbilder (Digital Nursing), flache Hierarchien und sinnstiftende Arbeitsbedingungen mit besten Arbeitsmitteln sind einige Antworten auf diese Herausforderung. Ich glaube, wir brauchen  einen grundlegenden Wertewandel in der Pflege. Pflege als wertvolle Dienstleistung am Menschen schafft ein Selbstwertgefühl, welches mittelfristig zweifelsohne in Interessenvertretungen, Politik und Gesellschaft zu einer höheren Anerkennung führt, sodass die Löhne näher an Dienstleistungen mit breiter Akzeptanz angeglichen werden können. Letztlich sind Altruismus und Unternehmertum keine sich ausschließenden Attribute in der Pflege von Morgen, was uns aus dem Krankenhaussektor bereits seit Jahren bekannt ist.

 Wie sind die Begriffe digitale Pflege und menschliche Pflege vereinbar?

Lösen wir uns zunächst aus der berechtigten Befürchtung, die digitale Pflege wäre gleichzusetzen mit Robotern und Automatisierung durch Maschinen. Allgemein lässt sich ein nachhaltiger Mehrwert durch digitale Pflegeanwendungen nur erzielen, wenn maschinelle Intelligenz (AI) und menschliche Intelligenz (Pflegepersonal) zusammen im Pflegeprozess wirksam werden. Lösen wir uns von den analogen Denkmustern, so wird eine Digitalisierung der „sprechenden“ Pflege mit den zahlreichen beratenden und erklärenden Inhalten zum Schlüssel für eine nachhaltige Verbesserung des Service-Erlebnisses Pflege werden.

Die digitale Pflege hat eine Menge Vorteile: Keine Öffnungszeiten, Nutzung unabhängig von Ort und Zeit, Überwindung von örtlichen Distanzen (z.B. der Angehörigen zur Teilnahme an Beratungen oder Schulungen), Schutz vor Infektionen usw. Die Übertragung bereits erprobter Modelle aus der Telemedizin in die „Tele-Pflege“ ist ein Ansatz für die Zukunft.

Hauptproblem der älteren Menschen ist die Einsamkeit
Hauptproblem der älteren Menschen ist die Einsamkeit

Ist es erstrebenswert, so lange wie möglich ambulante Pflege zu gewährleisten, weil doch eines der Hauptprobleme der älteren Menschen Einsamkeit ist?

Die stationäre Pflege in Zeiten von Corona hat gewisse Züge von „Einzelhaft“ und trägt unter den zahlreichen (gerechtfertigten) Restriktionen ebenso zu einer Isolation und Vereinsamung der Bewohner in Alten- und Pflegeheimen bei. Viele stationäre Pflegeeinrichtungen verfügen über keinerlei oder nur sehr eingeschränkte Digitale Grundausstattungen, wie z.B. WLAN, WIFI oder eine öffentlich zugängliche Web-Infrastruktur. Das macht die Kommunikation der Bewohner nach außen schwer – eine Fehlentwicklung, die auf falsche Sparentscheidungen von Betreibern und Kostenträgern gleichsam zurückzuführen ist. Die Entwicklung und Realisierung innovativer ambulanter Wohnformen für Pflegebedürftige ist eine von vielen Herausforderungen an den demographischen Wandel der Gesellschaft. Das Auseinanderfallen der Familienstrukturen durch voranschreitende Globalisierung in Verbindung mit dem Wunsch der Pflegebedürftigen nach selbstbestimmten zufriedenem Leben kann und darf nicht im Neubau von Pflegeheimen münden. Eine durchschnittliche Bewohnerzahl von ca. 100 Pflegebedürftigen wird kaum dem Anspruch an Individualität, Selbstbestimmung und familiärem Charakter für die Pflegebedürftigen gerecht. Die von Ihnen angesprochene Einsamkeit wird viel besser durch smart digital unterstützte Gestaltung von Wohngruppen oder ambulant betreuten Wohnformen mit dem Charakter von Großfamilien zu bekämpfen sein. Die Selbstbestimmung spielt für mich dabei die führende Rolle für „immer fittere“ Senioren mit einer immer höheren Lebenserwartung. Begleitend erscheinen die personellen Anforderungen an eine ambulante Pflege „flexibler“ zu sein als die starren Vorgaben im Pflegeheim. Außerdem ist es hervorragend möglich, in einer Kombination aus häuslicher Pflege und sozialen Kontakten in einer Tagespflege den von den Pflegebedürftigen gewünschten Mix aus privater Selbstbestimmung und persönlicher Privatsphäre in der Häuslichkeit zu organisieren. Dafür bedarf es jedoch einer breiten Aufklärung zu den tatsächlich bestehenden Möglichkeiten, die in der Pflegeversicherung heute bereits gegeben sind. Lediglich knapp 30 Prozent der Pflegebedürftigen sind dazu umfassend informiert.

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